Weihnachtsgeschichte 2016
 

Wenige Stunden vor Heiligabend herrschte noch reges Treiben in den Straßen der Stadt. Zielstrebig hasteten die Menschen vorwärts, nur Christine hastete nicht. Sie schlenderte ziellos umher, hielt hin und wieder inne, um die Schaufenster zu betrachten, die von glänzend, geschmackvoll bis hin zu geschmacklos und kitschig reichten.Von irgendwoher erklang "White Christmas" und vermischte sich mit Kindergebrüll, dem Gezeter einer genervten Mutter und dem billigen Gedudel des Weihnachtsmarkt-Karussells. Die Geräuschkulisse passte zu ihrer Gemütsverfassung.

Alle Menschen hier schienen ein gemeinsames Ziel zu verfolgen: Möglichst schnell die Einkäufe hinter sich zu bringen und rechtzeitig zu Haus bei den Lieben zu sein. "Mach dir nichts vor" schalt sie sich selbst, sie wusste natürlich, dass viele Menschen ihr Weihnachtsfest in Disharmonie und Streit verbrachten und nur gute Miene zum bösen Spiel vortäuschten. Dennoch musste sie seufzen und konnte sich nicht dagegen wehren, dass vor ihrem inneren Auge das Bild eines harmonischen Weihnachtsfestes erschien. Sie visualisierte die perfekte Weihnachtsszene mit Kaminfeuer, der alten alpenländischen Weihnachtsgrippe, dem traditionell geschmückten, echten Tannenbaum unter dem die festlich verpackten Geschenke lagen und die kleine Familie, die sich hier versammelt hatte.

Christine spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Schnell wischte sie die Tränen und das idyllische Weihnachtsbild mit einer hastigen Geste weg. Sie hatte schon so viele Tränen geweint. Sie fühlte sich so leer, als habe sie mit den ganzen Tränen alles aus sich heraus geweint. An den Weihnachtstagen war der Schmerz, der ihr so zu schaffen machte, nahezu unerträglich. Während der gesamten Adventszeit verfiel sie immer wieder in Panik, und am liebsten hätte sie diese in einer Art Winterschlaf verbracht, obwohl es früher immer ihre liebste Zeit war.

Nun, da sich der Todestag ihres geliebten Mannes zum dritten Mal gejährt hatte, war es also ihr drittes, furchtbares Weihnachtsfest. Schmerzhaft wie ein Albtraum, aus dem man schweißgebadet erwacht, um dann festzustellen, es ist leider kein Traum. Die ersten Läden schlossen bereits ihre Türen und löschten die Lichter. Sie wusste, dass sie es nicht mehr aufschieben konnte: Sie musste nach Hause gehen... Zuhause, das sollte doch ein Ort der Geborgenheit und des Trosts sein, aber doch nicht alleine, dachte sie. Allein verwandelte sich das Zuhause in einen Ort, der eiskalt nach ihrem Herzen griff....

Nicht einmal eine kleine Weihnachtkerze hatte sie aufgestellt. Der schöne Weihnachtsschmuck und die alte Krippe lagen seit drei Jahren unberührt im Dachboden. Sie hatte Angst davor, die Christbaumkugeln auszupacken und dabei schmerzlich an ihre gemeinsamen Weihnachtsfeste erinnert zu werden, an denen sie leise summend den Baum schmückte und er die Lichterketten anbrachte. Selbstverständlich hatten sie auch manchmal gestritten, aber in ihrer Erinnerung verblassten die Szenen und es blieben nur die wunderbaren Momente und ihre große Liebe.

Mechanisch trat sie den Heimweg an. Vor ihr schlenderte ein junges Pärchen Arm in Arm und sie beneidete sie so grenzenlos. Am liebsten hätte sie ihnen zugerufen: "Haltet euer Glück fest und geniest jede Minute." Dies tat sie natürlich nicht, man hätte sie wahrscheinlich nur für eine senile, alternde, unzufriedene Dame gehalten.

Sie bog um die Ecke, es hatte zu regnen begonnen, und sie war froh, dass es nicht auch noch schneite. Wie sehr hatte sie sich früher immer Schnee zu Weihnachten gewünscht. Da war ihr dieses triste, regnerische Wetter schon lieber, spiegelte es doch exakt ihren Seelenzustand wieder.

Nur noch zwei Straßen, und sie würde zu Hause sein. Sie hatte Angst vor diesem Moment, also verlangsamte sie unbewusst ihren Schritt. Da hörte sie plötzlich ein Wimmern, das aus Richtung der Hecke kam. Sie dachte, sie hätte sich getäuscht, aber da hörte sie es wieder. Sie blieb stehen und versuchte zu orten woher es genau kam. Da, hinter der Hecke, da musste es sein. Zögernd ging sie auf die Hecke zu, denn das Wimmern klang so erbärmlich. Sie schaute vorsichtig in die Hecke und dort saß er: Ein zitternder, klatsch nasser, schlammfarbener langhaariger Hund mit weißen Abzeichen. Sie hatte noch nie einen solchen Hund gesehen. Du armer, armer Kerl, sagte sie leise. Der Kleine sah sie zitternd und ängstlich an und seine braunen Kulleraugen schienen um Hilfe zu flehen. Sie zögerte keinen Augenblick, ließ doch das nasse, schmutzige Geschöpf einen Augenblick lang ihren eigenen Schmerz in den Hintergrund rücken. Sie ging in die Hocke und sprach ganz leise und liebevoll mit ihm und plötzlich begann sein Schwänzchen zu wedeln.

Sie hatte Hunde immer gern gehabt, aber niemals einen eigenen besessen, da sie immer ganztags gearbeitet hatte und daher einem Hund nicht hätte gerecht werden können.

Vorsichtig streichelte sie den armen Kerl und stellte fest, dass er ein Halsband trug. Sie zog ihren Gürtel aus ihrer Hose und befestigte ihn am Halsband. Langsam lockte sie ihn aus seinem Versteck und nahm ihn ganz fest in den Arm, was er auch geschehen ließ. Sie streichelte und drückte ihn immer wieder und auch er rieb seinen Kopf an ihrem Schoß. Sie wunderte sich, wie sehr es sie berührte und ihre leere Seele ein Gefühl hervorbrachte, dass sie lange nicht mehr gefühlt hatte. Ja, es machte sie tatsächlich glücklich, dass dieses nasse, zitternde Wesen seinen Kopf an sie drückte. Sie hatte beinahe vergessen, wie es sich anfühlte glücklich zu sein und dies überwältigte sie förmlich.

Plötzlich hatte sie es sehr eilig nach Hause zu kommen, der Arme fror doch so sehr. Sie suchte ein großes Frotteehandtuch und versuchte den Hund erst mal trocken zu rubbeln, was ihr mehr oder weniger glückte. Bei dieser Aktion stellte sie fest, es war eine Hündin. Je mehr der Hund abtrocknete, desto klarer wurde Christine, dass sie hier ein wunderschönes Tier gefunden hatte. Seine Vorderpfoten entpuppten sich als weiß, der Bart könnte auch weiß sein und eine weiße Halskrause kam ebenfalls zum Vorschein. Hinten hatte er weiße Socken an den Pfoten und eine weiße Schwanzspitze. Die Grundfarbe dürfte braun sein, das Unterfell war eher grau, dachte sie. Am besten gefielen ihr die wunderschönen bernsteinfarbenen Augen und dieser Blick...... Die Länge und Dichte seines Fells verblüfften sie, noch nie hatte sie so einen Hund gesehen. Der war sicher reinrassig und wurde vermisst. Sofort verwarf sie diesen Gedanken wieder. Sie legte eine Decke auf die Couch und deutet dem Hund sich neben sie zu setzten, was er auch augenblicklich machte. Sie streichelte und liebkoste den armen Kerl und er leckte ihr die Hände. Die ganze Zeit über hatte sie keine Sekunde an ihren Schmerz gedacht!

Du hast sicher Hunger und Durst, fragte sie und deutete den vielsagenden Blick mit ja. Sie durchforstete ihren kärglich bestückten Kühlschrank und entschied sich für ein Leberwurstbrot. Sie schnitt es in kleine Stücke und brachte es zur Couch. Mit Begeisterung nahm die Hündin die Stückchen aus ihrer Hand und es gab noch ein zweites und ein drittes. Dann machte sie sich über die Wasserschüssel her, die Christine bereitgestellt hatte und begann ganz vorsichtig die Wohnung zu erkunden. Dabei suchte sie immer wieder Christines Nähe, dann legte sie ihre Pfote auf ihr Knie, stubste sie mit der Schnauze und wollte einfach nur gestreichelt werden. Beide genossen diese Momente.

Christine war aber realistisch genug, um zu wissen, sie darf die Hündin nicht behalten. Wahrscheinlich vermisste sie jemand ganz schrecklich. Vielleicht weinte ein Kind oder ein einsamer Mensch wie sie selbst um dieses herrliche Wesen. Sie holte tief Luft, bevor sie ihr das Halsband abnahm. Ja, am Halsband hing ein Herz und darauf stand SHEILA und eine Telefonnummer. Sie schluckte, ein paar Minuten Glück hatte Sheila ihr geschenkt und dafür war sie unendlich dankbar und ihr wurde plötzlich bewusst, sie kann noch lieben und sich sorgen. Sie glaubte, diese Fähigkeiten wären mit ihrem Mann gestorben.

Schweren Herzens griff sie zum Telefon und wählte die Nummer. Sofort meldet sich eine junge Frauenstimme. Sie brach augenblicklich in Tränen aus, als sie hörte, dass Sheila gefunden wurde. Die Polizei und das Tierheim hätten sie bereits informiert, aber niemand hat den Hund gesehen. Sheila habe sich durch die Fehlzündung eines LKWs erschreckt und sei in Panik davongelaufen. Wir holen sie sofort ab, meinte die junge Frau und Christine gab ihr die Adresse. Sie wohnten ganz in der Nähe.Bei dem Gedanken sich von dem Hund trennen zu müssen, schossen ihr bereits wieder Tränen in die Augen. Ein letztes Mal nahm sie den Hund in die Arme, knuddelte und küsste ihn und ihre Hände streichelten das weiche Fell, das langsam anfing trocken zu werden.

Das Läuten der Türglocke riss sie aus ihren Träumen. Mechanisch ging sie zur Tür und öffnete. Doch vor ihr stand keine junge Frau, sondern ein älterer Herr, vielleicht in ihrem Alter. Guten Tag, Sie sind unser Weihnachtsengel, sagte er mit einem erleichterten Lächeln in den Augen. Pardon, Konstantin Gesswein - Christine Bauer - sie gaben sich die Hände. Da kam auch schon Sheila angerannt und begrüßte ihr Herrchen überschwänglich indem sie an ihm hochsprang und vor Freude wild bellte und wie wild wedelte.

Christine war klar, Hund und Herr liebten sich und sie musste sich von Sheila trennen. Wissen Sie, sagte Herr Gesswein leise, ich war so allein, seit meine Frau vor drei Jahren gestorben ist, er räusperte sich, da hab ich mir Sheila geholt. Ach, erwiderte Christine, ich dachte, die junge Frau am Telefon wäre die Besitzerin. Das ist meine Tochter, aber sie wissen ja, wie das so ist: Die Kinder werden erwachsen, ziehen fort und haben ihr eigenes Leben und ihre eigenen Probleme. Es klang ein wenig traurig. Ich, ich habe keine Kinder, aber ich weiß was Alleinsein heißt, stammelte Christine. Er blickte sie erwartungsvoll an, als erwarte er eine Erklärung. Mein Mann ist auch vor drei Jahren gestorben, und seit dem bin ich so allein.

Entschuldigung, darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten, hörte sie sich plötzlich sagen und war selbst über dieses Angebot erstaunt. Es ist ja nur Höflichkeit, sagte ihre innere Stimme, aber sie wusste, dass es noch etwas anderes war... ein Bauchgefühl oder war es Hoffnung? Hoffnung auf ein wenig Gesellschaft an diesem furchtbaren Tag.

Gerne, meinte Herr Gesswein. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie dankbar ich bin, dass Sie den Hund gefunden haben. Sie scheint sich ja auf Anhieb hier wohl zu fühlen, wir bleiben gerne noch ein wenig hier. Wissen Sie, Sheila ist der liebste und einfühlsamste Hund den man sich vorstellen kann, leider ist sie etwas schreckhaft. Angesichts der ganzen Weihnachtsvorbereitungen war ich einfach unaufmerksam und so ist es passiert, dass Sheila weggelaufen ist. Ich hab mir solche Vorwürfe gemacht!

Sie servierte den Tee und bemerkte, dass er auf die Uhr schaute. Sofort schoss es Christine durch den Kopf: Es ist Weihnachten und seine Tochter wartet auf ihn. Und sie sagte: Ihre Familie wartet auf Sie und ich halte Sie auf, Entschuldigung. Das stimmt, aber Sie sind heute unser rettender Weihnachtsengel, Sie können sich nicht vorstellen, wie glücklich mich ihr Anruf machte. Falls Sie nichts anderes vorhaben, würde es uns sehr freuen, wenn Sie heute Abend unser Gast wären, bitte sagen Sie ja.

Noch nichts vorhaben? Sie musste beinahe lachen... In Ihrem Kopf ratterte es und in ihrem Bauch kribbelte es wie bei einem Teenager. Sie wollte schon ablehnen, aber irgendwie reizte sie die Einladung so sehr und es war ja fast ein göttlicher Zufall, dass sie den Hund gefunden hatte. Nein, sie wollte nicht wieder so einen schrecklichen Heiligabend erleben. Sie fühlte sich in den letzten drei Jahren nicht richtig lebendig aber auch nicht richtig tot. Dieser charmante Herr, der goldige Hund …. war das die Alternative? Ja, wenn es keine Umstände macht... stotterte sie. Umstände? Jubelte er fast.. ich bitte Sie, es wäre so eine Freude für Sheila und mich. Ich hole Sie in zwei Stunden ab, sagte er bestimmt und sie nickte. So nahm dieses dritte Weihnachten, vor dem sie sich so gefürchtet hatte, eine ganz andere Wendung

Sie stand vor dem Spiegel und seit drei Jahren zog sie sich an Weihnachten wieder etwas Festliches an. Für das schwarze, klassische Kleid hatte sie sich zunächst entschieden... aber schwarz? Nein diese Farbe hatte sie so lange getragen und sie hatte jetzt das Bedürfnis etwas anderes zu tragen. Sie griff nach dem roten Zweiteiler und legte dazu passend die Granatkette um. Es war nicht einfach nur die Entscheidung für das rote Kostüm, sondern es war die Entscheidung für das Leben, aber das wusste sie in diesem Moment noch nicht.

Als er sie zwei Stunden später abholte, pünktlich und mit Sheila, die inzwischen gebadet, geföhnt und gebürstet wurde und super schön aussah, ahnte sie bereits, dass nun vielleicht ein neuer Lebensabschnitt beginnen könnte. Es war möglich und sie fühlte es genau. Christine war an diesem Abend wieder glücklich und schaute voller Zuversicht in die Zukunft. Es war wie ein wunderbarer Lichtstrahl am grauen Himmel und dies verdankte sie diesem Bearded Collie SHEILA.

 
 
 
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